Es gibt Dinge, die ändern sich scheinbar nie. Ganz besonders dann, wenn sie den Weg in Fachbücher gefunden haben. Dann werden sie kaum noch hinterfragt, schlimmer noch, sie werden wie eine Infektion weitergetragen. Der Mythos Kontrakturenprophylaxe gehört dazu.
Einschlägige Fachbücher und Pflegeschulen lehren: „Regelmäßiges durchbewegen der betroffenen Gelenke“. Diese Maßnahme allein, mag vor mehr als 100 Jahren in Lazaretten, nach Schussverletzungen und Verbrennungen berechtigt gewesen sein. Kontrakturen in unserer Zeit sind eher als systemisches Phänomen anzusehen. Als eine Reaktion prädestinierter Pflegebedürftiger auf hektische unkoordinierte Reizüberflutung, da wo Wärme, Ausstreichungen und gezielte Berührungen wichtig wären.
Berufsanfänger und Berufserfahrene stehen gleichermaßen ratlos vor pflegebedürftigen Menschen, deren Extremitäten verkrümmt sind und wie von Stahlseilen gehalten, nicht die kleinste Bewegung zulassen. Schweißgebadet wird die Körperpflege durchgeführt, wird versucht, Kleidungsstücke über angewinkelte Arme und starre Hälse zu streifen. Im stationären Pflegebereich sind Kontrakturen sehr viel häufiger zu beobachten, als bei Menschen, die in ihrer vertrauten Umgebung gepflegt werden. Ganz sicher trägt das Umfeld entscheidend dazu bei, ob sich ein Mensch verspannt oder entspannt bleiben kann.
Wenn diese Überlegungen auf die drei gängigen Qualitätsebenen übertragen werden, entstehen folgende Veränderungsansätze:
Strukturebene:
- Wie ist das Umfeld gestaltet? … für den Pflegebedürftigen UND die Mitarbeiter
- Verfügen die Pflegenden über notwendiges neurologisches Grundlagenwissen und über Elemente der basalen Stimulation?
- Sind erforderliche Arbeitsmittel verfügbar und intakt?
Prozessebene:
- Welche noch so kleinen, spannungsregulierenden Impulse lassen sich regelmäßig in den Arbeitsabläufen verankern?
- Können und vor allem dürfen versierte Mitarbeiter als Multiplikatoren wirken?
Ergebnisebene:
Zur Erfassung der Wirksamkeit sollte folgendes beobachtet werden:
- der reduzierte Medikamentenverbrauch
- die Veränderungen im Schmerzassessment
- die Verringerung der durch die Fehlstellung bedingten Hautläsionen
Zusammenfassend betrachtet, geben uns Menschen mit Kontrakturen die Aufgabe, als Pflegekraft die eigene Haltung in der Arbeitssituation zu überdenken. Sie spiegeln uns unser eigenes Befinden durch ihre Körperreaktion.
Ina Tristl
Lehrerin für Pflegeberufe und Fachkraft für Arbeitssicherheit (BGW)